Kultur Marillion on tour
| Lesedauer: 5 Minuten
Von Peter Huth
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Wenn Sie von einer Kellnerin Mitte 30 irgendwo in der englischen Provinz bedient werden, steht auf ihren Ansteckschild wahrscheinlich Kayleigh. Die großartige Band, die daran schuld ist, tourt gerade durch Deutschland. Ihren Superhit „Kayleigh“ spielt sie nicht.
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Es gibt wenige Bands, für die Erfolg so sehr Fluch war wie für Marillion. 1985 wurde ein kleines, ziemliches kitschiges Liebeslied aus dem Konzeptalbum „Misplaced Childhood“ herausgerissen und als Single veröffentlicht: „Kayleigh“. Wenn Sie von einer Kellnerin Mitte 30 irgendwo in der englischen Provinz bedient werden, steht dieser Name wahrscheinlich auf ihrem Ansteckschild.
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Der Song wurde zum Welthit, das Formatradio dudelt ihn heute noch. Die Band spielte eine Zeit lang in ausverkauften Stadien, konnte (und wollte) aber keinen zweiten Superhit landen, zerstritt sich, wechselte den Sänger aus, schreibt seit vier Jahrzehnten ein großartiges Album nach dem nächsten – und wird doch immer verlacht als die Truppe, die die Schnulze „Kayleigh“ schrieb.
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Natürlich steht der Song im Berliner Tempodrom nicht auf der Setlist. Er wird schon seit Jahren nur noch sporadisch und als Gag gespielt. Es erwartet auch niemand. Die Zuschauer der Hitparaden-Jahre in den Achtzigern kommen schon lange nicht mehr – stattdessen die Fans, die Marillion seit vielen Jahren loyal und voller Hingabe folgen, einige reisen der Band auf der gesamten Tour nach. In Berlin war viel Holländisch, Polnisch, Skandinavisch zu hören.
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Die Verbindung zwischen Marillion und ihren Fans ist ein Phänomen. Als die Band ihren EMI-Vertrag verlor, wurde das nächste Album per Crowdfunding finanziert, viele weitere Aktionen dieser Art sollten folgen. Auch das Geld für eine US-Tour streckten die Fans vor, als die Versicherungsprämien wegen Corona unbezahlbar wurden, verkaufte die Band eine Art Anleihe, um eventuelle Tourausfälle abzufangen.
Jeder Fan eine Band
Der Beginn ist Berlin ist ungewöhnlich: Marillion spielen ihr aktuelles Album „An Hour Before It’s Dark“ komplett von vorn bis hinten, damit ist die erste der zwei Konzertstunden also schon belegt. Ebenfalls neu ist die Retro-Ausstattung der Bühne: Keine Projektionen mehr, nur noch die beeindruckende, aber konventionelle Lightshow, also volle Konzentration auf die fünf Musiker. Nach fast 33 gemeinsamen Jahren ein druckvolles, perfekt aufeinander eingespieltes Team, also eine Band im Wortsinn, in dem jeder dem anderen viel Raum lässt – obwohl Sänger Steve Hogarth naturgemäß im Vordergrund steht. 66 Jahre ist er alt und hat doch den spöttischen Jungencharme bewahrt, mit dem er einst die Fans von sich überzeugte, die nach dem Weggang des schottischen Hünen Fish zuerst irritiert über den Neuen waren: einen schlacksigen Sonnyboy, der während der Songs schon mal auf die Boxentürme kletterte oder im Licht-Rig turnte.
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Das tut er nicht, doch seine Präsenz ist weiterhin beeindruckend: Hogarth ist der perfekte Sänger für die düster-melancholische Musik der Band, in sich verwobene und verschachtelte Melodien, mit immer wieder robusten Ausbrüchen von Zorn. Das funktioniert sowohl in den längeren Songs als auch in den kürzeren, von denen zumindest „Murder Machines“ dann doch wieder Hitpotenzial hätte. Erster Höhepunkt, wie erwartet, das Corona-Epos „Care“ mit seinem hymnischen Dankesfinale für Helferinnen und Helfer: „The angels of this world are not in the walls of churches“, sondern in Krankenhäusern und Altenheimen.
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Zwischendurch darf da ruhig auch einmal was schiefgehen, das bricht das Pathos ganz angenehm: Als das Monitor-System von Bassist Pete Trewavas ausfällt, singt Hogarth den Pekip-Gruppen-Klassiker „The Wheels on the Bus“, und die Halle stimmt mit ein. Ohnehin sind sie seit jeher singfreudig, die Marillion-Fans. So sehr, dass sogar die Gitarrensoli des Ausnahmemusikers Steve Rothery und die Keyboardläufe Mark Kellys mitgesummt werden, während die Schläge von Drummer Ian Mosley auf die Schenkel geklopft werden. Jeder Fan eine eigene kleine Marillion-Band. So entsteht eine fröhliche und laute Atmosphäre, obwohl der gesamte Saal leider bestuhlt ist – eine Unsitte, die immer weiter um sich greift.
Nur ein Stück aus der Ära Fish
Der Rest des Sets besteht aus erfreulich vielen Stücken des Meisterwerks „Brave“, dem Album, mit dem Marillion endgültig ihre Emanzipation von den Erwartungen der Plattenfirma geschafft hatten und statt Radiosongs mit einem zwei Platten langen Konzeptstück über ein verwirrtes Mädchen auf einer walisischen Seebrücke aus dem Studio kamen. Der Anfang vom Ende beim Majorlabel EMI, aber der Beginn des modernen Marillion-Stils, in dem sich der Neo-Progressive-Rock der ersten vier Alben nur noch als ferne Echos wiederfindet. Die alten Genre-Vorbilder wie Genesis und King Crimson haben Marillion viel deutlicher hinter sich gelassen als beispielsweise Steven Wilson. Sie sind heute eine Klasse für sich.
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Wie üblich gibt es abweichend zur Standard-Setliste in der Hauptstadt immer den Song „Berlin“, ein kraftvolles Nachwende-Epos. Auch gegen das Klischee, über Hobbits, Orks und Trolle zu singen, kämpft die Band praktisch seit Gründung. Tat sie nie, sondern war eher schon immer eine politische Band, die ihre Alben als Kommentare zum Zeitgeschehen verstanden wissen wollte. Ganz zum Schluss „Sugar Mice“, das einzige Stück des Abends aus der Ära mit Fish. Den vermisst man schon lange nicht mehr. Und „Kayleigh“ auch nicht.
Die Band tourt noch bis in die kommende Woche in Deutschland. Im Juni nächsten Jahres findet das erste deutsche (neben Ausgaben in Kanada, Holland, Italien und dem UK) „Marillion-Weekend“ statt, in dem die Band zwei bis vier Abende hintereinander auftritt und einen weiten Teil des Repertoires aufführt. Ort: Berlin, Tempodrom.