Ukraine erhält weitere Patriot-Systeme und Priorität bei Lieferungen (2024)

Die USA werden neu produzierte Flugabwehrraketen mit Vorrang an die Ukraine liefern. Andere Besteller werden auf später vertröstet – auch die Schweiz.

Andreas Rüesch, Georg Häsler, Bern

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Die häufigen russischen Luftangriffe auf wichtige Infrastrukturobjekte in der Ukraine haben dramatische Folgen. In den vergangenen Monaten gelang es Russland, im Nachbarland rund die Hälfte der Elektrizitätsproduktion auszuschalten. Anders als noch im Winter, den die Ukraine recht gut überstanden hat, kommt es nun in allen Regionen zu täglichen Stromabschaltungen. Nach einem weiteren nächtlichen Angriff auf ein Kraftwerk am Donnerstag teilte der Chef des grossen Stromproduzenten Dtek mit: «Wir müssen dringend den Himmel über uns schliessen, oder die Ukraine steht im nächsten Winter vor einer ernsten Krise.»

Auch die Regierung bittet seit langem eindringlich um ausländische Hilfe bei der Flugabwehr. Am leistungsfähigsten gegen die russischen Marschflugkörper und ballistischen Raketen haben sich die in den USA hergestellten Patriot-Flugabwehrsysteme erwiesen. Die Ukraine besitzt derzeit nur drei solche Systeme – zwei aus Deutschland und eines aus den USA. Sie hält jedoch sieben für das absolute Minimum und strebt einen Ausbau auf 25 Systeme an.

Deutschland hat bereits im April die Lieferung eines weiteren Patriot-Systems zugesagt; der Transfer dieses vierten Systems ist derzeit im Gange. Italien schickt ferner ein vergleichbares Flugabwehrsystem des Typs Samp/T, das wie die Patriots Ziele auf eine Distanz von mehr als hundert Kilometern bekämpfen kann. Nun scheint es, dass mit weiteren ausländischen Hilfeleistungen die Minimalzahl von sieben Patriot-Feuereinheiten doch noch erreicht werden kann.

So hat Rumänien am Donnerstag angekündigt, eines seiner vier Patriot-Systeme an die Ukraine abzugeben. Die Übergabe erfolgt allerdings unter der Bedingung, dass Rumänien in Verhandlungen mit den Nato-Verbündeten als Ersatz ein gleichwertiges System erhält. Es müsse eine vorübergehende Lösung gefunden werden, um die entstehende operative Schwachstelle auszugleichen, teilte Bukarest mit. Die Details dieses «Ringtauschs» sind noch unklar und könnten den Transfer verzögern.

Zugleich haben die USA durchblicken lassen, dass auch sie der Ukraine ein weiteres Patriot-System zur Verfügung stellen werden. Es soll, wie die «New York Times» unter Berufung auf Regierungskreise berichtete, aus den Beständen des amerikanischen Heeres in Polen kommen. Die Lieferung könnte deshalb relativ schnell erfolgen. Hilfe leisten ferner die Niederlande. Die dortige Regierung gab am Freitag bekannt, sie werde gemeinsam mit einem nicht genannten anderen Partnerland eine weitere Patriot-Batterie zusammensetzen und dafür Einzelkomponenten liefern. Jedes System besteht aus einem Radar, einem Feuerleitstand, sechs bis acht Startgeräten und einer Anzahl von Abwehr-Lenkwaffen.

Bei diesen Abfangraketen zeigen sich die Engpässe besonders drastisch. Der Mangel an Nachschub hatte im Frühling zur Folge, dass die Ukraine einen wachsenden Anteil der russischen Raketen nicht mehr abwehren konnte. Nun haben die USA eine Grundsatzentscheidung zugunsten Kiews gefällt: Laut einer Mitteilung des Weissen Hauses wird die Auslieferung von Patriot-Raketen an eine Reihe von Bestellern vorläufig gestoppt und erhält die Ukraine Vorrang bei künftigen Lieferungen.

Unter Berufung auf übergeordnete Sicherheitsinteressen greift die Regierung Biden somit in bestehende Verträge ein und vertröstet manche Länder auf später. Der sicherheitspolitische Sprecher des Weissen Hauses nannte dies eine «schwierige, aber notwendige Entscheidung». Die Raketenlieferungen an die Ukraine sollen im Spätsommer beginnen. Zu den betroffenen Ländern, die mit verzögerten Lieferungen rechnen müssen, zählen laut dem «Wall Street Journal» Südkorea und die Vereinigten Arabischen Emirate.

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In Europa stehen vor allem die Lieferungen von Lenkwaffen des Typs PAC-3 zur Diskussion, die von Lockheed Martin hergestellt werden. Betroffen sind vor allem Deutschland, Polen und Rumänien. Der Entscheid der amerikanischen Regierung hat aber auch Auswirkungen auf die Schweiz, wie der Schweizer Rüstungschef Anfang dieser Woche der Sicherheitspolitischen Kommission des Nationalrats mitteilte. Der Bundesrat hatte im Oktober 2023 für 300 Millionen Franken solche PAC-3 bestellt.

Damit erhält die Schweiz ein Zusatzpaket an Lenkwaffen, um die Wirkung der fünf bestellten Patriot-Feuereinheiten zu erhöhen. Diese werden ab 2026 ausgeliefert. Die Schweizer Armee kann damit gut ein Viertel des Territoriums gegen gegnerische Flugzeuge schützen, einen etwas kleineren Raum auch gegen Marschflugkörper oder ballistische Raketen. Dafür sind GEM-T-Lenkwaffen der Firma Raytheon vorgesehen. Die PAC-3 können zusätzlich auch Kurzstreckenraketen abwehren und erhöhen die Durchhaltefähigkeit.

Der Zeitplan für die Einführung der ursprünglich bestellten Patriot-Komponenten soll eingehalten werden und damit auch die Lieferung der GEM-T-Lenkwaffen. Doch auch hier gibt es eine Unsicherheit: Der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius hat mehrere Länder angefragt, ob sie zugunsten der Ukraine auf ihre Patriots warten könnten. Bundespräsidentin Viola Amherd hat bisher keine Antwort gegeben.

Falls die Schweizer Armee erst gegen Ende des Jahrzehnts ihre Patriot-Feuereinheiten erhält, bleibt im Alpenraum eine gefährliche Fähigkeitslücke offen: Die Schweiz hat gegenwärtig keine Mittel zur Abwehr weitreichender Lenkwaffen. Die Schweizer Luftverteidigung besteht bis zur Einführung der F-35-Kampfflugzeuge und der Patriot-Systeme nur aus 30 F/A-18-Jets mit Amraam- und Sidewinder-Lenkwaffen sowie aus 35-Millimeter-Kanonen und schultergestützten Stingern für den Objektschutz.

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